Dr. Wolfgang Obwexer im Interview mit dem Team des Dachverbandes
Dr. Wolfgang Obwexer, 59, Psychologe, Pädagoge, Mediator. Hauptberufliche Tätigkeit als Geschäftsführer der Lebenshilfe. Langjährige Mitarbeit in den Gremien des Dachverbandes, seit 2020 Präsident des Dachverbandes für Soziales und Gesundheit.
- Können die Erzählungen von Menschen mit seltenen Krankheiten und ihren Angehörigen dazu beitragen, das Bewusstsein dafür zu schärfen und nicht nur die medizinische Fachwelt, sondern auch die Gesellschaft zu informieren?
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Ja, davon bin ich überzeugt. Wobei das nicht nur auf Menschen mit seltenen Krankheiten zutrifft, sondern wohl für alle Bereiche der Medizin gilt. Durch die Erzählungen von Menschen mit seltenen und chronischen Krankheiten kann die Gesellschaft einen differenzierten Einblick erhalten, was es bedeutet, mit einer Krankheit zu leben. Wenn ich mich über ein Krankheitsbild informiere, betrete ich mit einem Erfahrungsbericht eine andere Ebene als wenn ich ein medizinisches Fachbuch zur Hand nehme. Beides, das nüchterne wissenschaftliche Wissen um die medizinischen Aspekte der Krankheit sowie die Erzählungen betroffener Menschen, die Empathie ermöglichen, ergeben ein ganzheitlicheres Bild. Das eine ohne das andere bleibt notgedrungen bruchstückhaft.
- Welche Chancen der Narrativen Medizin sehen Sie für Patienten, Angehörige und natürlich auch Fachleute und welche Vision haben Sie diesbezüglich als Dachverband?
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Als jemand, der in den Sozial- und Geisteswissenschaften beheimatet ist, ist mir der Ansatz der narrativen Medizin mit ihren ganzheitlichen Ansätzen sehr nah.
Auf die Frage, wer ich bin, ist die Antwort eine Erzählung. Der Mensch als erzählendes Wesen formt aus seinen persönlichen Geschichten seine jeweilige Identität. Durch das Zusammenführen unserer immer fragmentarischen Erinnerungen sind wir unentwegt bemüht kohärente Geschichten über unser Leben zu erzählen. Schwerere Krankheiten sind häufig Bruchstellen in diesen Geschichten, sie sind besonders erklärungsbedürftige Abweichungen von gesellschaftlich vorgegeben narrativen Skripten, wie Biografien bestenfalls ablaufen sollten.
Durch die notwendige Konfrontation mit Untersuchungen, Diagnosen, Behandlungen und generell mit den institutionellen Dynamiken des Gesundheitswesens wird im Falle einer Erkrankung vieles in Frage gestellt und es droht unsere narrative Autorität in Bezug auf unser Leben Schaden zu nehmen. In dieser Situation ist es hilfreich, sich Zeit zum achtsamen Zuhören zu nehmen. Studien belegen, dass Patienten, die ihre Situation in Worte fassen und in eine kohärente Geschichte übersetzen höhere Zufriedenheit erleben und damit der Gefahr einer depressiven Störung vorbeugen. ÄrztInnen können dabei helfen, eine Verknüpfung zwischen der persönlichen Geschichte mit dem Wissen der Medizin herzustellen. Für die behandelnden ÄrztInnen sind die Geschichten darüber hinaus Quelle von hilfreichen Erkenntnissen, die zum Gelingen von Behandlungen und Therapien beitragen. Sachlichkeit und Objektivität wird ergänzt durch narrative Wissensproduktion. Ein zentrales Problem ist dabei das der fehlenden Zeit. Zuhören heißt, sich Zeit zu nehmen, kein leichtes Unterfangen im durchgetakteten Berufsalltag. In diesem Sinn befördert die narrative auch gleichzeitig eine entschleunigte Medizin, die dann natürlich auch mehr Ressourcen benötigt. Für die Angehörigen können die Erzählungen zu einem tieferen Verständnis der erkrankten Person, dessen, was sie benötigt, und der Beziehung zueinander bedeuten.
Eine der Hauptaufgaben des Dachverbandes ist es, den unterstützungsbedürftigen beeinträchtigten oder erkrankten Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. „Nichts über uns ohne uns“, das Motto der UN-Behindertenrechtskonvention, kann in der Medizin nichts anderes bedeuten, nicht zum Behandlungsobjekt zu werden, sondern die Steuerung über das eigene Leben trotz Krankheit zu behalten. Und das kann nur darin münden, dass der Betroffene bestimmt, welche Geschichte er über sich erzählen will. In diesem Sinn wünsche ich mir, dass der Dachverband den Ansatz der Narrativen Medizin nach seinen Möglichkeiten unterstützt und dazu beiträgt, dass dieser auch in Südtirol immer mehr Fuß fasst.