Narrative Medizin - die Sicht der Ärztin für Allgemeinmedizin

Dr.in Ingrid Windisch im Interview mit dem Team des Dachverbandes.

 

Dr.in Windisch

Ingrid Windisch, Hausärztin, MAS Palliative Care, Referentin in der Altenpflege, langjährige Mitarbeiterin in einer Familienberatungsstelle mit Schwerpunkt Frauengesundheit und Jugendberatung, hat kürzlich den Masterstudiengang in angewandter narrativer Medizin des Bereichs Gesundheit der Stiftung ISTUD (https://www.istud.it/sanita/medicina-narrativa/) abgeschlossen. 

Frau Dr. Windisch, was sind die Ursprünge der narrativen Medizin und was beinhaltet sie?

Zuerst hat sich “narrative Medizin” als Wissenschaftszweig in England und in den USA entwickelt. Die amerikanische Ärztin für klinische Medizin und Professorin an der Columbia Universität in New York, Rita Charon kann als Pionierin der narrativen Medizin bezeichnet werden. Als Methode setzte sie diese vor allem mit ihren Studenten und Studentinnen ein, um die Geschichten von kranken Menschen in die klinische Praxis zu integrieren.

Die narrative Medizin ist eine interdisziplinäre Strategie, die die Bedeutung von Erzählungen über authentische Erfahrungen hervorhebt. Wie Giorgio Bert es ausdrückt, "lernt die medizinische Fachkraft, die Erzählungen der Patienten zu lesen, um all das zu entdecken, was sie zu einer einzigartigen Einheit macht".

In Italien ist es vor allem auch Maria Giulia Marini, die einen neuen Zugang zur narrativen Medizin öffnet. Als Wissenschaftlerin begleitet sie Studien, fördert Projekte und veröffentlicht die Ergebnisse regelmäßig in der Online-Zeitschrift „Cronaca di Sanitá e Medicina narrativa.“ Als Dozentin leitet sie Ausbildungen in narrativer Medizin und sie ist Teil eines internationalen Netzwerkes, das die Inhalte der narrativen Medizin in ihren vielfältigen Formen lehrt, veröffentlich und bekannt macht.

Was ist Narrative Medizin für Sie?

Mich haben die Geschichten der Menschen, denen ich in medizinischen Kontexten begegnet bin immer schon interessiert. Im Rahmen der Anamneseerhebung gibt es besonders sensible Momente: Zeitpunkt der Diagnosestellung, Besprechung der Prognose, Anamnese bei Verwirrtheit oder bei Sprach- und Hörstörungen, Umgang mit Besonderheiten wie Schweigen, Weinen und Wut.

Die Befunde sprechen eine technische Sprache und sind wichtig. Doch erst das Zusammenbringen von Befunden und Befinden, von Daten und ihrer Bedeutung für eine erkrankte Person ergibt ein vollständiges und genaues Bild.

Ich habe irgendwann begonnen, Begegnungen mit Menschen, die mich besonders berührt haben aufzuschreiben, und so sind viele Miniatur-Geschichten entstanden, die über das medizinisch notwendige hinaus einen größeren Zusammenhang aufzeigen.

Das Schreiben ist für mich ein Reflexionsprozess, der mir immer wieder wichtige Hinweise gibt und sichtbar macht, was meine Arbeit als Ärztin für Allgemeinmedizin ausmacht.

Wie können Patienten und Ärzte narrative Medizin praktizieren?

Am besten lässt sich “narrative Medizin” in Form von Projekten umsetzen. Ein Konzept für eine bestimmte Gruppe kann erarbeitet werden und nach einer Einführung in die Methoden der Narrativen Medizin können sowohl betroffene Patienten und Patientinnen, als auch Angehörige oder Betreuerinnen und Pflegekräfte etc. ihren narrativen Blick auf ein Krankheitsgeschehen formulieren. Eine schriftliche Form erleichtert die Auswertung und Reflexion. Das Dokument bleibt und kann immer wieder genutzt werden.

Die Konsensus Konferenz wurde ins Leben gerufen, um Leitlinien für den Einsatz der narrativen Medizin in der klinischen Versorgung von seltenen und chronischen degenerativen Krankheiten zu erstellen. Was bedeutet dieses Dokument Ihrer Meinung nach für die Gesundheitsversorgung?

Gerade bei seltenen Erkrankungen spielt das Erzählen der Krankheitsgeschichte eine wesentliche Rolle. Häufig machen Menschen mit seltenen Erkrankungen Erfahrungen, nicht ernst genommen zu werden, nicht gehört zu werden, ausgegrenzt zu werden. Dabei sind die Betroffenen und ihre Angehörigen  häufig die besten Experten und Expertinnen ihrer Erkrankung, da sie lebenslang damit Erfahrungen sammeln müssen. Ihre Geschichten ernst zu nehmen und genau zuzuhören erleichtert nicht nur die medizinische Behandlung, sondern schafft auch gegenseitiges Verständnis und stärkt die Allianz zwischen Kranken und ihren Behandelnden.